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Begegnung mit einer Künstlerin: Marika Schmiedts Film „Warum die Wunde offen bleibt“

Von Sebastian Bubner

Begegnungen / Phantasmen

Als ich das erste Mal über Marika Schmiedts Kunst stolperte, es waren die später dann von Rassist_innen inkriminierten Linzer Plakate, war ich sofort begeistert von ihrer Bildsprache mit ihrer einfachen schnörkellosen anklagenden Beredsamkeit.
Wenn bei emanzipatorischer politischer Kunst jemand nach dem Staatsanwalt schreit, dann ist das ein Gütemerkmal. Bei Marika Schmiedt schrien viele. Es ist eine Kunst, die eingreift in die Wirklichkeit mit ihren Bildern und Texten. Es ist Kunst, die ganz in ihrer Wirkungsabsicht aufgeht, eben weil sie diese Wirkung erzielt.

Als ich das erste Mal über Marika Schmiedts Kunst stolperte, war da Sympathie, gleiche Wellenlänge. Jetzt soll ich über Marika Schmiedts Kunst schreiben. Und da schiebt sich gleich einiger Zweifel in mein Verhältnis zur Künstlerin und ihrer Kunst: Was weiß ich eigentlich über das Expertinnentum aus Erleiden? Was weiß ich über Roma, deren Selbstschutz oft auch darin bestand zu sagen: Worüber man (aus Verfolgungsgründen und aus Traumatisierung) nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
Marika Schmiedt spricht und ist unüberhörbar laut und klar. Aber drumherum, all die anderen, die es betrifft, betraf, sind still, es gibt wenige, die so beharrlich und seismisch genau sind, ein paar lernen wir in Marika Schmiedts Film kennen.

Ich kenne die Kunst und bin froh und erleichtert, dass sie da ist, ich bewundere die Künstlerin für ihren Mut im Angesicht unartikuliert schäumender faschistischer Gegenreaktion. Als sie in einem sozialen Netzwerk einen Ausschnitt aus ihrem Film teilte, war ich so glücklich, ich hätte sie umarmen mögen. Wie seltsam, hat sie mich befreit?
Ich hätte mit der Sprühflasche dastehen sollen, ich statt ihrer, dachte ich.
Aber was weiß ich eigentlich über die Roma, wie kann ich über ein unfassbar grauenhaftes Leiden etwas annähernd Kluges sagen, wenn ich es nicht nachvollziehen kann? Ich mit meiner „bildungs“bürgerlichen Dünkelherkunft, mütterlicherseits aus einer nazistischen Lehrer_innenfamilie, väterlicherseits aus einer fanatisch faschistischen plus opportunistischen Berlindynastie sowie aus einer schöngeistigen großbürgerlichen Unternehmerfamilie mit nicht ganz so klar gelagerter Täter_innenvergangenheit. Wie stehe ich zu Marika Schmiedt mit meiner Nazifamilienvergangenheit, mit meiner Kindheitslektüre von Börries von Münchhausen und Britting, diesen Nazi-Autoren (über Münchhausen schrieb jetzt Jutta Ditfurth ein sehr wichtiges Buch). Ich mit meiner zeitweisen Wertschätzung von Löns, Jünger – und auch Weinheber, den Schmiedt in ihrer autobiographischen politischen Arbeit (denn das Politische ist privat und umgekehrt) thematisiert. Wie stehe ich zum Lebenswerk von Marika Schmiedt? Verschiedene Konzepte – oder Phantasmen – bieten sich an: Wie ein Täterkind zum Kind von in Auschwitz Ermordeten? Wie ein Lernender zu einer Wissenden? Ein Gadsche zu einer Romni. Ein Künstler zu einer Künstlerin?
Ein Aktivist zu einer Aktivistin? Puzzlestück zu Puzzlestück? Komplementärkontrast? Seelenverwandt? Zwei durch Biographie und beschädigte Kindheit Versehrte und Überlebende?

Das herauszubekommen ist nicht ganz unwichtig, und zwar für jede_n, der / die vor den Plakaten Schmiedts steht, die Dokumentation liest, Schmiedts filmische Erkundungen der familiär-politischen Leidensgeschichte ansieht. Es ist schon ein Privileg, die mörderische Nazigeschichte Deutschlands und Österreichs nicht als Einschlag in die eigene Familiengeschichte, in die eigene Biographie verbuchen zu müssen. Aber bedeutet es weniger Beschädigung, wenn wir nicht zu einer Familie gehören, die durch Nazismus zerstört wurde, sondern zu einer, die zuschlug? Und im Grunde kann jede_r, der / die Marika Schmiedts Projekt zusieht, das eigene Projekt als inneren Film mitlaufen lassen, die eigene Biographiearbeit, die eigene menschenverachtende Sozialisation oder die eigene traumatisierte Versehrtheit. Rassismus ist eine Geschichte der Opfer, doch auch, politisch genauso drängend, Geschichte der Täterinnen und Täter.
Und „Mitläufer_innen“, Mitläufer_innen – wie lächerlich schon dieses Wort – waren in Nazi-Deutschland und Nazi-Österreich ganz ganz wenige. Also: Jeder und jede, im Angesicht der politischen Aushebungen Schmiedts, ist zur Selbstreflexion aufgerufen.
Jeder und jede hat eigene Leichen im Keller, beweinte und betrauerte Ermordete und Verfolgte der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft – oder: die eigenen Faschist_innen in der Familie, die sauberen Herren und Damen mit NSDAP-Parteibuch und Frontkämpferabzeichen.

„Unsere“ Geschichte: Faschismus und Roma-Holocaust

Als meine beiden Großväter, mein Stiefgroßvater und mein Großonkel im Krieg waren, als Soldaten Hitlers, da wurde Marika Schmiedts Großmutter in Ravensbrück ermordet.
Als meine Mutter 1945 bei einem „Fliegeralarm“ im Keller eines Bremer Krankenhauses zu Welt kam, da lebte die durch die Ermordung der Großmutter verwaiste Mutter Marika Schmiedts bei Pflegeeltern und wurde dort malträtiert. Ich als Kind einer Täter_innenfamilie, die peinlichst darauf achtet, sich an nichts oder zumindest immer weniger zu erinnern und und auf diese Weise, bang wird’s gehofft, weit weg von einer Verantwortlichmachung der Großelterngeneration zu rücken. Marika Schmiedt als Kind einer Familie, die von den Nazis verfolgt, zerrüttet, in Heime eingewiesen und Pflegefamilien zugewiesen (das Schicksal der Verwahrung in einem Heim und bei „Pflege“eltern erlitt sie selbst ebenfalls), einer Familie, die im Holocaust ermordet wurde. Zwei verschiedene Lebensläufe, die verschiedene Perspektiven erzeugt haben: Transgenerationale Traumata auf beiden Seiten, aber ganz verschiedene Traumata, Opfer-Erinnerungen, Täter-Erinnerungen. Ich spüre sie im Suchen Marika Schmiedts nach den Spuren, den Wunden der Roma, den Wunden ihrer Familie, ihren Wunden.
Ich spüre sie aber auch in meinen Alpträumen, in denen mich unheimliche Wehrmachtsoldaten mit gezogener Waffe überfallen, Wehrmachtsoldaten, die, wie ich spüre, Verwandte aus meiner Großvatergeneration sind. Wie zwei Puzzlestücke passen diese Biografien und Sensibilitäten zusammen. Was dem einen Leben genommen wurde, wurde dem anderen gegeben und umgekehrt: Privilegien, Sicherheit. Und dann gibt es auch Ähnlichkeit: Trauerverweigerung hier wie dort, aus Selbstschutz (das Tabu), aus Selbstschutz: Zur NS-Familiengeschichte wird da sozusagen nichts gesagt ohne die Rechtsanwält_in, das Leiden unter den Nazivätern wird nur im kleinen Kreis thematisiert und es sind eher die Frauen, die die eigenen Väter nicht sofort eiligst entschuldigen und reinwaschen. Sogar die eigenen Enkel, Neffen, Kinder, Cousins sind verdächtig, wenn sie all zu deutlich Fragen nach der Nazigeschichte der Familie stellen.

Mitgegangen, mitgefangen – und wieder mitgegangen

Ich spreche aus der Position eines im Lernprozess befindlichen Gadsche, eines Weißen mit Herkunft aus einer für Deutschland „ganz normalen“ Nazifamilie.
Die Großvatergeneration meiner Familie bestand mehrheitlich aus NSDAP-Mitgliedern, also Nazis. Nur Griffelspitzer_innen und Revisionist_innen verbreiten die Mär von der Mitläufer_in; was soll das überhaupt sein? Ist Mitlaufen bei der Hetzjagd auf Menschen weniger schlimm? Meine männlichen Vorfahren sind durchgehend in den Krieg gezogen. Mein Stiefgroßvater war Zeuge der Erschießung polnischer Kriegsgefangener durch die Wehrmacht. Vergeblich habe ich die Familie gefragt, wie es denn sein konnte, dass er „Zeuge“ wurde, ohne, selbst ein Wehrmachtssoldat, in den Massenmord involviert zu sein? Der Verdacht der Bluttat bleibt, des Kriegsverbrechens, das noch über das Verbrechen des Kriegs hinausging. Mein Großonkel trieb als Soldat Kriegsgefangene, die mit einem Gewehr ausgestattet worden waren, vor sich her, damit sie statt seiner als Kanonenfutter an der Front umkamen. Rahmungstruppen nannten die Nazi-Schinder das, und mein Großonkel fand nichts dabei. Er lachte bei dem Begriff verschmitzt. Sich fein rausgewunden. Er war Nazi bis an sein Lebensende, ein knorrig aussehender Mann mit vollem grauem, sauber gescheiteltem Haar bis in die hohen 80er.
Der Vater meines mir unbekannten leiblichen Vaters, so trug es mir inzwischen meine Familie väterlicherseits zu, war eifriger Nazi, Dynast einer Kaufmannsfamilie mit Supermarktkette (Butterbeck) in Berlin. Meinen Vater triezte die stramme Faschistenfamilie, da er, anders als seine Geschwister, statt blonden Haares schwarzes hatte. Die Schäden blieben ihm durchs Leben. Die Naziideologie feierte hin und wieder fröhliche Urständ in seinen Lebensentscheidungen.
Alle Distanzierung von meinen Nazivorfahren musste ich selbst betreiben, Familienthema war diese nie. Im Sinne von Pflicht, Dienen, preußischer Höflichkeit, einer bildungsbürgerlichen Liebe für inzwischen gründlich als Nazis oder zumindest Opportunisten dokumentierte Literat_innen (Börries von Münchhausen, Böll, Grass) einer generellen Wurstigkeit und einer War-da-was-Haltung zur Nazigeschichte der Familie bin ich imprägniert worden mit lippenbekennender Indifferenz gegenüber Faschismus. Ich schreibe das zur Klärung meiner Optik auf Faschismus und Romaverfolgung.

Mörderischer Diskurs

Das Thema der Romaverfolgung in diesem Film ist ein mit der Eindringlichkeit autobiographischen Expertinnentums vorgetragener „Komplex“ in jedem Sinne des Wortes. Komplex, das heißt: kompliziert. Komplex heißt aber auch: Die Gesellschaft hat da Komplexe. Diese Komplexe führen zu Störungen im gesellschaftlichen Ablauf, die fortwährend verniedlicht, übersehen und darin verstärkt werden.
Die gesellschaftliche Störung, ausgelöst von der Mehrheitsgesellschaft der Nicht-Roma, ist eine gewaltige. Gewohnheitsmäßige Beschimpfung von Roma, „Rahmung“ der Roma als Klischee (durch „Rahmungstruppen“?) , die dann von „wohlmeinenden“ Gadsche (=Nicht-Roma / Mehrheitsbevölkerung) benutzt wird, um Menschen einzuzirkeln, einzuzäunen, auszuschließen, zu vertreiben, zu schlagen, zu ermorden. Katastrophale Bildungspolitik, die nicht einmal mehr in der Lage ist, die gröbsten Menschenrechtsverletzungen im Bildungsbetrieb auf „rationaler“ Ebene (was ist das?) sich selbst zum Bewusstsein zu bringen.

Das ist eine der unverständlichen und durchgehenden Folgen antiromaistischer Klischees: dass Roma gar nicht erst zugehört wird. Mehrheitsmensch weiß immer schon, was ist, bevor was ist. Vorenthaltung von Bildung für Roma ist die Folge.
Roma-Kinder werden in sogenannte Praxisklassen gesteckt, wo sie das Gefühl haben müssen, abgestempelt zu sein. In einer unsäglichen „Hilfsaktion“, die sich über Österreich nach Deutschland ausbreitete, in Berlin uneinsichtig vorangetrieben von der profilneurotischen Kommunalpolitikerin Franziska Giffey, wurde Roma-Kindern das Pflanzen von Knoblauch als Bildungsalternative auferlegt; da – in einer kompletten Pervertierung des pädagogischen Auftrags – vorausgesetzt wurde, dass „diese“ Kinder „sowieso“ nicht lernen könnten. Und wer nichts kann, dem bringen wir nichts bei. Logisch. Niemand hört da das leise Surren der im Grab rotierenden Pestalozzi und Co.
Niemandem fällt der ethische Bruch mit der pädagogischen Verpflichtung auf, die zynische Umkehr der Beweislast. Denn natürlich muss immer der/die Pädagog_in nachweisen, dass der Schüler / die Schülerin etwas KANN. Wenn dem_der Pädagog_in das nicht gelingt, ist er /sie gescheitert und mit ihm/r das gesamte pädagogische System. Der_die Pädagog_in beweist qua definitionem niemals, dass das Kind nichts kann.
Eine Pädagog_in, die das versucht, verstößt gravierend nicht nur gegen Ethik, sondern gegen die eigene Existenzberechtigung als pais agogos, gegen die uralte Jobbeschreibung dieses seltsamen Berufs. Wir müssen uns da ganz klar machen, was für ein abgrundtiefer Riss durch die Gesellschaft geht, wenn die hehrsten Grundsätze der Pädagogik spielend leicht in ihr perverses Gegenteil verkehrt werden können, weil und wenn es sich um Roma handelt. Dass ist das Zeichen des Rassismus, wenn mensch die Unmenschlichkeit in der Mitte der Gesellschaft auch bei Kritik partout nicht erkennen kann und den Ausschluss und die Abstempelung schönlabert. So wie es bei Giffeys verunglücktem Import des österreichischen Projekts „Bio-Knoblauch Romanes“ (sic) geschah. In Marika Schmiedts Kindheits-Biographie wird die Präsupposition des „Du kannst nichts“ und die kriminalisierende Abstempelung eines Kindes als „Tu-nicht-gut“ in heimbehördlichen Aktenstücken dokumentiert, deren durchgehend perfide, geradezu euphorisch defizit-orientierte Gehässigkeit mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Faschismus mit Soße

Wenn mir heute der Name Weinheber begegnet, dann fällt mir Marika Schmiedts Kunstaktion von 2015 ein, eine Plakataktion mit dem langen Titel: „Futschikato –
Die verschwundenen Roma und Sinti aus Kirchstetten und der „Fall Weinheber“.
Und dann gibt es da Weinhebers Gedichtband „Späte Krone“ und der darin Michelangelo nachgedichtete Sonettenkranz, den ich als junger Student mit lyrischen Ambitionen ungeheuer kunstvoll und berührend fand. Außerdem in dem Lyrikband: das Gedicht des ausgestoßenen Wanderers, der sich ein ganzes Haus mit Familie bis in kleine Details zusammenphantasiert, in einem Brief an einen Freund, und am Ende zerplatzt die Blase, und das lyrische Ich gesteht, nichts, aber auch gar nichts, zu haben. Diese Texte fand ich, wohl beeinflusst von der offiziellen Meinung vom kunstvollen Worthandwerker, überaus gelungen, sozusagen artistisch, aber auch in der Emotion, melancholisch, heruntergetont, überzeugend.
Jetzt habe ich die Texte noch mal gelesen. Konnte ich mich so irren, im Qualitätsurteil? Zeigt sich in den zwei Gedichten aus Weinhebers „Später Krone“ Nazigeist?
Tatsächlich, bei nochmaliger Lektüre fiel die kunstvolle Sprache in sich zusammen wie schlecht gebackener Kuchen. Im Zentrum des michelangelinischen Sonettenkranzes steht bei Weinheber als Kunstbegriff der STEIN. Angestrengt, mühsam, müht sich der Künstler, aus diesem groben, großen, schweren Stein irgendein dumpfes Geheimnis zu befreien, irgend ein dunkles Schicksal. Naziarchitektur mit ihrem Fimmel für Granit und große Quader drängte sich mir auf. Das Nicht-Humane einer solchen Kunst.
Das Soziale kommt gar nicht erst ins Spiel. Die Anbetung des Schweigens (Geheimnis, Traurigkeit, Niederdrückendes). Alles ein leerer Zirkus, „Größe“ um ihrer selbst willen.
Und das Gedicht des Ausgestoßenen? Ich dachte, und da fiel es mir auf, vielleicht war Weinheber plötzlich, unbewusst, klar, dass die Fettlebe auf den Rücken der Opfer des Naziregimes nicht ewig weitergehen konnte, trotz 1000jährigen Reiches.
Er hat sich ja dann auch, Vergeltung gewärtigend, das Leben genommen. Ja, er hatte NICHTS mehr. Das sah er voraus. Daher übrigens auch das echte Sentiment, dachte ich. Aber was für ein großer Kübel weißer Tränen war das? Der Täter am Schreibtisch wird larmoyant, wenn er dran denkt, wie die Unterdrückten und Ermordeten sich irgendwann rächen könnten oder gerächt werden könnten. Der ganze Weinheber kam mir vollkommen lächerlich und nichtig vor, die literarische Recherche hatte das Ebenbild dessen ergeben, was Marika Schmiedts Kunstaktion ans Licht der Öffentlichkeit zog: einen von keinerlei Sozialität gedrückten, gedankenfreien, feigen Typen. Zu solchen scheinen die Kirchstettener ihre Kinder heranziehen zu wollen, folgt man der Benennung eines Kindergartens nach dem schriftstellernden Nazifunktionär.
Denn ein schriftstellernder Nazifunktionär, mehr war er nicht. Einen abgehalfterten Literaten nennt ihn Marika Schmiedt, aber es ist ja nie etwas abgehalftert genug, die Nazis spannen das Abgeschmackte vor ihren Tod bringenden Wagen.
www.skipgan-blahstift-spitzer.blogspot.co.at