Intervention Futschikato – Die verschwundenen Roma und Sinti aus Kirchstetten und der „Fall Weinheber“

Das dunkle Kapitel der Ortsgeschichte

20150927_164811


Eine künstlerische Intervention zur ambivalenten Gedenk- und Erinnerungskultur in Niederösterreich, am Beispiel der Marktgemeinde Kirchstetten. Geplant ist eine temporäre Kunstinstallation im öffentlichen Raum.

Kirchstetten ist eine Marktgemeinde im Bezirk Sankt Pölten-Land in Niederösterreich. In den 1930er Jahren lebten ca. 80 bis 100 Roma und Sinti in Kirchstetten und in den angrenzenden Katastralgemeinden Waasen und Totzenbach, nur wenige überlebten die NS-Zeit. Roma und Sinti wurden in Niederösterreich seit jeher als „Landplage“ gesehen. Die Bezirkshauptmannschaften machten immer wieder Vorschläge zur „Eindämmung des Zigeunerunwesens“.
Im August 1939 befahl Gauleiter Jury die einheitliche Erfassung von so genannten „Asozialen“ in Niederdonau. Es blieb den einzelnen Gendarmeriebeamten und Landräten überlassen die „Gemeinschaftsunfähigkeit“ festzustellen. ln der Durchführung der Erfassung und Behandlung von „Gemeinschaftsunfähigen“ gewann Niederdonau Vorbildcharakter.
In Kirchstetten begann die Erfassungsaktion von Roma und Sinti schon früh, Zeugnis der Verstrickung und Komplizenschaft ist ein vorliegender Akt.
Roma und Sinti wurden bereits 1935 als Familien registriert, die erstellten Abstammungsnachweise und personenbezogenen Datenblätter dienten später auch als Grundlage für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Im Juni 1939 erfolgten die ersten Transporte mit Roma und Sinti aus Kirchstetten in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Ravensbrück. Im September 1941 wurden mehrere Personen in das Lager Lackenbach überstellt. Die zuletzt in Kirchstetten wohnhaften Roma und Sinti wurden im August 1943 nach Auschwitz deportiert.
Im Akt ersichtlich ist auch die enge Zusammenarbeit zwischen der Lokalbehörde in Kirchstetten, der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, den Gemeinden Neulengbach und Ollersbach und dem damaligen Polizeiapparat. Die Unterlagen dokumentieren überdies, dass die Dienststellen in Kirchstetten über den Verbleib der Roma und Sinti eindeutig Bescheid wussten. Dafür sprechen die in den 1940er Jahren nachträglich hinzugefügten Ergänzungen wie z. B. Randbemerkungen zum Transport ins Konzentrationslager, Korrespondenz mit der KZ-Kommandantur Buchenwald, Einträge zu Verwandtschafts-verhältnissen oder Vermerke zum Tod im Lager. Die Aufarbeitung der besonderen Rolle, die Kirchstetten bei der Umsetzung des Nationalsozialismus spielte und die maßgebliche Beteiligung am Roma Holocaust wird in der offiziellen Selbstdarstellung der „Dichtergemeinde“ mit keinem Wort erwähnt. Eine Auseinander-setzung oder Erinnerung an die systematische Verfolgung und Ermordung der Roma und Sinti aus Kirchstetten fand bis heute nicht statt, zum Mord kommt obendrein die Auslöschung der Spuren. Angesichts dieser Gegebenheit erscheint die romantisierende Verehrung von NS-Poet und „Dichterfürst“ Josef Weinheber aufs Neue fragwürdig. Weinheber erwarb 1936 in Kirchstetten ein Haus, in dem sich heute die „Weinheber-gedenkstätte“ das Weinhebermuseum und sein Grab befinden. Außerdem sind noch immer eine Straße, ein Platz, ein Kindergarten und eine Autobahnbrücke nach ihm benannt. Angaben zu Weinhebers NS-Biografie wurden freilich bequem ausgelassen. Man hat es versäumt, Zusatztafeln anzubringen, die auf seine nationalsozialistische Vergangenheit hinweisen.


!!!Genehmigung für Kunstinstallation wird nicht erteilt!!!

Sehr geehrte Frau Schmiedt

Ich würde sie gerne zu einem gemeinsamen Gespräch betreffend des von ihnen vorgeschlagenen Gedenkprojektes einladen. Es wird leider nicht möglich sein, diese Kunstinstallation so zu verwirklichen. Ich kann mir aber sehr wohl vorstellen, einmal ein Projekt  –   z.B. mit unserem „ZeitZeigen-Team“, so diese wollen, zu gestalten und zu verwirklichen. Ich habe meine Gedanken und Bedenken im beigefügten Brief an sie zu Papier gebracht und bitte sie, diese zur Kenntnis zu nehmen. Betreffend eines gemeinsamen, konstruktiven Gedankenaustausches, bitte einfach nur anrufen.
Mit freundlichen Grüßen aus dem schönen Kirchstetten

Paul Horsak

Bürgermeister



S.g. Fr. Schmiedt!

Selbstverständlich sind all diese Gräueltaten und Geschehnisse dieser Zeit aufs Schärfste zu verurteilen. Es kann natürlich auch nie genug der mahnende Zeigefinger erhoben werden, um zu verhindern, dass solch unsägliche Zeiten jemals wiederkehren können. Mir wurde in Erzählungen von älteren Gemeindebürgerinnen und Gemeinde-bürgern aber immer berichtet, dass das Zusammenleben der in Kirchstetten ansässigen Roma und Sinti mit der hiesigen Bevölkerung kein schlechtes war und alle miteinander gut ausgekommen sind. Es sind nun aber doch schon 70 Jahre seit diesen grauenvollen Jahren vergangen und in Kirchstetten besteht die hier lebende Bevölkerung zu mehr als 95 % aus Folgegenerationen. Man soll zwar nie vergessen und schon gar nicht völlig verdrängen, aber die heutigen Generationen sind sehr wohl der Ansicht, dass die Vergangenheit ruhen soll, da sie ja auch keinerlei Schuld an diesen unwürdigen Geschehnissen haben. Allgemeiner Tenor: Erinnerung ja, aber es muss auch einmal Schluss sein mit Aufarbeitung und Auseinandersetzung.


Werte Frau Schmiedt!

Ich selbst darf dieser schönen, lebenswerten Marktgemeinde seit 2010 als Bürgermeister vorstehen, möchte mich aber strikt gegen die Titulierung „dunkles Kapitel der Ortsgeschichte“, oder „die besondere Rolle, die Kirchstetten bei der Umsetzung des Nationalsozialismus, sowie der maßgeblichen Beteiligung am Holocaust der Roma spielte“, verwahren. Fast jede Stadt, Gemeinde oder Ortschaft in fast ganz Europa war Ort solcher Gräueltaten und es waren viel zu viele daran beteiligt. Aber jetzt unser Kirchstetten als besonderes Beispiel herauszupicken und quasi nach 70 Jahren neuerlich an den Pranger zu stellen, dagegen verwehre ich mich als Gemeindeoberhaupt vehement. Wir sind eine Dichtergemeinde und sind stolz darauf, Heimat für Kultur in all ihren Facetten und in ihrem breiten Spektrum zu sein. Josef Weinheber, als weltweit anerkannter Lyriker und Poet, gehört da genauso dazu wie W. H. Auden, der Maler Karl Mayerhofer, unser Kirchenchor, die Trachtenmusikkapelle, unsere Mundartdichterin Rosa Dorn u.v.m. Ich werde Ihr Schreiben mit dem Titel „Futschikato – die verschwundenen Roma und Sinti aus Kirchstetten und der Fall Weinheber“ selbstverständlich dem gesamten Gemeinderat zur Kenntnis bringen und auch an die Bezirkshauptmannschaft weiterleiten und verbleibe mit freundlichen Grüßen aus unserem schönen Kirchstetten

Bgm. Paul Horsak


***UPDATE: 27. September 2015

Protest gegen die ambivalente Gedenk- und Erinnerungskultur der Marktgemeinde Kirchstetten und die Ablehnung der geplanten Kunstinstallation

Aussendung BGM. Horsak


NÖN Demo Kirchstetten„Warum die Wunde offen bleibt“


Volksgruppen ORF.at Keine Kunstinstallation zur Erinnerung
NÖN Kirchstetten
„Als Nazi hingestellt“
Alexandra Caruso
Kirchstetten, Weinheber, Roma – zugeschnitten von der Agitpropkünstlerin Marika Schmiedt
Kurier
Bürgermeister verhindert Erinnerung an NS-Opfer
NÖN Wirbel um Kunstprojekt
Salzburger Nachrichten
Keine Kunstinstallation für Roma und Sinti aus Kirchstetten
dROMa
Kirchstetten vereitelt Roma-Gedenkprojekt
derstandard.at Keine Kunstinstallation für Roma und Sinti aus Kirchstetten
Wolfgang Zinggl
Kunstinstallation zur Erinnerung an Schicksal von Roma und Sinti von Kirchstettner Bürgermeister abgelehnt
stoppt die rechten
Kirchstettens Roma: Futschikato?
Dr. Doron Rabinovici Schreiben an den Bürgermeister
Dr. Jasmina Tumbas
Regarding Marika Schmiedt’s request for permission of showing her art installation in Kirchstetten
Dr. Elisabeth Brainin
Brief an den Bürgermeister von Kirchstetten
Dipl.- Psych. Samy Teicher
An den Bürgermeister von Kirchstetten

14 Antworten auf „Intervention Futschikato – Die verschwundenen Roma und Sinti aus Kirchstetten und der „Fall Weinheber““

sehr geehrter herr bürgermeister,

mit erstaunen las ich ihre briefe an frau schmiedt.
sie wehren sich „strikt gegen die Titulierung ‚dunkles Kapitel der Ortsgeschichte'“ als bezeichnung für die NS-zeit. man ist versucht, sie zu fragen, ob sie’s denn als „helles kapitel“ betrachten, aber das meinten sie ja wohl nicht.
sie berufen sich vielmehr darauf, dass auch andere an „solchen Gräueltaten“ beteiligt waren. also abgesehen davon, dass viele nicht nur an den gräueln irgendwie beteiligt waren, muss man wohl schon klar sagen, dass die gräuel auch GETAN wurden. dass es täter gab. und opfer. und menschen, die sich nicht beteiligt haben (wahrscheinlich auch in kirchstetten!?).

ich will ihren brief nicht weiter auf verräterische spuren abklopfen, denn so passiert es oft: wir schämen uns für diese zeiten und versuchen sie mit worten zu bannen. aber gerade darin zeigt sich, dass eine (vage) „Erinnerung“ leider nicht hilft. es passieren uns immer wieder solche sprachlichen ausrutscher, wenn wir uns nicht auch der – mühsamen und oft schmerzhaften – „Aufarbeitung und Auseinandersetzung“ unterziehen.

ich nehme von ihnen an, dass es ihnen ernsthaft darum geht zu verhindern, dass „dass solch unsägliche Zeiten jemals wiederkehren können“. das lässt mich hoffen, dass sie ihre reaktion überdenken und das angebot der künstlerin annehmen. schmiedt ist bekannt für ihre genaue und sachliche arbeit, sie erhebt gerade NICHT den „Zeigefinger“, wie sie anscheinend vermuten. vielmehr werden ihre ausstellungen dafür hoch gelobt, dass sie gerade mit ihrer zurückhaltung bei interpretationen und schuldzuweisungen aufrüttelt: sie schafft es, unser aller blick für zusammenhänge zu schärfen. klare benennungen braucht es natürlich schon, wenn es darum geht, ein wiederaufkommen von solchen tendenzen heute und in der zukunft einzubremsen. aber klare worte hat eine gemeinde doch umso weniger zu scheuen, je konsequenter sie sich mit der geschichte auseinander setzt.
sehen sie das nicht auch so?

freundliche grüße
hedwig presch

Sehr geehrter Herr Bgm. Horsak,

ich schließe mich den Inhalten des Briefs, welchen Doron Rabinovici an sie gerichtet hat, vollinhaltlich an und fordere sie dringend dazu auf, Frau Schmiedt die notwendigen Bewilligungen zu gewähren als auch ihr Werk und dessen Präsentation zu unterstützten.
Einen Weinheber-Kindergarten und „man muss auch mal vergessen“ – dazu müssten Sie, Herr Horsak, zuerst einmal gewusst haben, zuerst einmal erinnert haben, zuerst einmal die Auseinandersetzung gewagt haben. Dies war offensichtlich nicht im geringsten der Fall.

Einer Nachkommenden, nein irgendjemandem zu sagen „wir haben eh den Weinheber, also wird sind eh nicht so kunstfern“ beweist in einer auffallenden Härte, wie notwendig dieses Kunstwerk für sie persönlich, für sie als Politiker aber auch für die Menschen in ihrer Gemeinde ist. Unterstützen sie die Verwirklichung, es wird für Ihren Ort eine Bereicherung sein.
Und den Weinheber-Kindergarten würde ich an ihrer Stelle im Eiltempo umbenennen, bevor sie damit noch weltberühmt werden.

Mit freundlichen Grüßen
Helga Pregesbauer

Hab den ORF Beitrag über die Kirchstetten-Aktion gesehen.
Gute Sache, sehr gute Sache eigentlich, um in dem Weinheber-Nest einmal etwas zu bewegen.
Ich kenn selbst Kirchstetten und manchen Bewohner, bin selbst aber aus der großen Stadt östlich davon.
Nun hat mich der Weinheber-Kult dort schon immer irritiert.
Die nach ihm benannten Plätze g’hörn endlich ernsthaft umbenannt.

Das mit den einschlägigen Listen war mir neu, doch hat mich das nicht überrascht.
Überrascht hat mich nur, daß Sie, liebe Frau Schmiedt, das Kruckenkreuz des faschistoiden Ständestaates als Hakenkreuz bezeichnen.
Wo die Sache für die ÖVPler in Kirchstetten nicht grad besser dasteht: Das Kruckenkreuz war das Symbol der Dollfuß-Diktatur, die das Leben schon vor den Nazis in Österreich unerträglich machte. Dabei haben die katholische Kirche gemeinsam mit der damaligen ÖVP einen totalitären Staat errichtet, wo es sogar schon Internierungslager gab.
Doch mit den nachfolgenden Nazis hatte das nicht soviel zu tun…
Was, wie gesagt, die “Sache” nicht viel besser gemacht hat.

Beste Grüße und Gratulation,
AB

besten dank.
ja, sie haben recht. es ist ein kruckenkreuz (hammerkreuz).
die strichsetzung und schrägstellung des symbols ist dennoch irritierend.
man könnte fast annehmen, der_die zeichnerin hat bereits das hakenkreuz geübt.

Ja, ich hab für mich den Spruch geprägt:
„Ist ein schlampig gezeichnetes Kruckenkreuz ein Hakenkreuz oder umgekehrt? Eine wahrlich politphilosophische Frage in Österreichien.“

Ich wünsch Ihnen noch sehr die Erlaubnis, die Ausstellung doch „im schönen Kirchstetten“ durchführen zu können!
AB

p.s.: Wie man hier sieht gab es schon sozusagen präfaschistische Gesellschaften, die postfaschistisch dorchaus noch weiterleben, leider…

Ups!, da ist mir was Blödes passiert.
Hab geschrieben: „Wie man hier sieht gab es schon sozusagen präfaschistische Gesellschaften, die postfaschistisch dorchaus noch weiterleben, leider…“

Doch damit sprech ich bestimmten Gesellschaften irgendwie das Weiterleben ab. Auch nicht besser als die Nazis das taten.

Also Korrektur:
Wie man hier sieht, gab es schon sozusagen präfaschistische Gesellschaftsstrukturen, die als Struktur postfaschistisch durchaus noch weiterleben, leider…“

Entschuldigung, AB

ich möchte mich bei Marika Schmiedt bedanken, dass sie dieses projekt gemacht hat. mit ihrer arbeit zu den diversen verbrechen der faschistischen gesellschaften und den nachfolgenden postfaschistischen düsteren kapiteln, setzt sie sich aus. sie stellt vergessenes in die öffentlichkeit, und muss sich gefallen lassen, dass dieses verdrängte und vergessene wieder durchgestrichen werden kann, von leuten, die die geschichte nicht willen wollen, vergessen, verdrängen, schön reden, verharmlosen.

Marika Schmiedts werk enthält etliches zu ihrer persönlichen familiengeschichte. künstlerinnen, die sich in dieser weise zeigen, ermöglichen den rezipient_innen einblick in erlebte geschichte. etliche künstlerinnen und künstler verwenden diese form, weil zeitzeugnisse nicht einfach als fiktion abgetan werden können. jedenfalls machen sich jene, die solche zeitzeugnisse öffenktlich vom tisch wischen, als überholt oder irrelevant erklären dann auch bekannt. sie machen sich bekannt als nachfahren in der verleugnungs- und beschönungstradition.

bleibt zu hoffen, dass diese unschätzbar wertvolle arbeit, die hässlichen dorfgeschichten zu erzählen, ganz gegen jede (touristisch verwertbare) romantik, die künstler_innen und die nachfahren der verfolgten stärkt.

diese geschichten, auch gerade weil sie von leuten erzählt werden, die sie „von innen“ kennen, tragen dazu bei, die katastrophale unwürdige lage in der sich Roma in europa (wieder) befinden, auch für den mit ignoranz gepanzerten mainstream erkennbar werden zu lassen. was endlich zu sozial und politisch solidarischem handeln leiten….kann.

solidarische grüße,
georgie gruber

Sehr geehrte Frau Schmiedt!
Ich hoffe sehr, dass Sie ihr Kunstprojekt in Kirchstetten verwirklichen können. Es ist wichtig was Sie machen, um, wie Sie selbst sagen „der vergessenen, verdrängten und verschwiegenen Opfer zu gedenken“ und „die traditionelle Gedenkkultur zu reflektieren und zu hinterfragen“. Es darf kein Ende des Erinnerns geben und es ist Zeit, dass Kirchstetten sich mit diesem Teil seiner Vergangenheit kritisch auseinandersetzt.

Sehr geehrter Her Rabinovici!
Vielen Dank für Ihren Brief. Ich teile ihre Meinung voll und möchte an dieser Stelle sagen, dass es auch Kirchstettner gibt (nämlich mich und auch andere), die das Gedenkprojekt von Marika Schmiedt für wichtig halten und die Durchführung begrüßen.

Hinterlasse einen Kommentar