Die täglichen Schikanen gegen Roma führen zu einer Apartheid, die Europa in Südafrika verurteilte, der sie aber am eigenen Kontinent ziemlich ungeniert beim Wachsen zusieht
Von Simone Schönett
Ausgerechnet diese zwei Menschen kommen mir bei der Frage in den Sinn: meine selige Großmutter und Papst Johannes Paul II. Meine Ulmische, weil sie mich zeit ihres Lebens immer beschwor, meine Herkunft vom, wie sie es noch nannte, „Fahrenden Volk“ um jeden Preis zu verleugnen. Und dieser Papst, weil er 1991 bei einer Audienz für Roma, einen wahren Satz formulierte: „Ihr bildet eine Minderheit, die keine territorialen Grenzen kennt und die den bewaffneten Kampf, um sich durchzusetzen, stets abgelehnt hat.“ Beide geboren in den 1920er-Jahren, waren sie für mich immer Alte, deren Ratschläge in mir fast nur deren Gegenteile hervorriefen.
Doch seit einiger Zeit ist es eigenartig: Das (Über-)Lebensmotto meiner jenischen Großmutter erscheint mir gegenwärtig gar nicht mehr so absurd wie noch vor ein paar Jahren. Wohingegen der Papstsatz, den ich als Pazifistin, ungeachtet dessen, wer ihn in wessen Namen sagte, tröstlich fand, nun immer mehr lockt und mich dazu verführt, ihn in seiner Umkehrung zu lesen, wobei er ziemlich surreal aussieht – um dann hyperreal zu werden.
Meine Identität als Jenische geheimzuhalten – das gelänge mir heute nicht einmal mehr, selbst wenn ich das wollte.
Kürzlich auf der Hochzeit meines Verlegers kam ich mit einem Mann zum Smalltalk. Nicht grad meine Stärke. Ich sagte so was in der Art wie: „Schöne Hochzeit – gute Ehe.“ Darauf das bibliophile Gegenüber: „Sind Sie die Zigeunerin?“ Zugegeben: Dort fiel es leicht, sich über diese dumme Direktheit zu amüsieren. Die passende Antwort – „Wenn Sie das so sehen wollen“ – fiel mir leider erst Tage später ein. Aber angesichts dessen, was sich außerhalb eines so festlichen Rahmens abspielt, ist das ohnehin eine Lappalie. Und wäre nicht weiter erwähnenswert, ginge es nicht um dieses eine Wort, das selbst in den politisch korrektesten Diskursen immer auftaucht – auch wenn es dort zumindest unter Anführungszeichen gesetzt wird, was aber dennoch nichts ändert an dem Bild, das man gemeinhin von Roma, Sinti oder Jenischen hat. Es ist über Jahrhunderte fast unverändert, nein, eigentlich gleichgeblieben. Nicht aus der Wirklichkeit bezogen. Aber dauerhaft verankert. In den Köpfen. Und in der Sprache. Aber wenn es um Roma geht, ist man in Europa traditionell bildungsfern. Allein die Vorstellung der Roma als monolithisches Ganzes bezeugt das Ausmaß der Unwissenheit über die Geschichte der verschiedenen Stämme etwa – oder gar deren Namen. Die Mehrheit des einstigen „Fahrenden Volkes“ in Europa ist zwar längst auch in der Postmoderne angekommen. Doch das bleibt verborgen hinter all den Trugbildern und Zeichenspielen – und macht uns somit unwirklich.
Ausdauerndes Schweigen
Wie Millionen von uns bin ich weder in einem Wohnwagen oder einem Slum geboren, keine Analphabetin und beruflich nicht im Bunde mit der ominösen und vielbeschworenen, aber nicht existierenden „Bettelmafia“. Was mir aber auch nicht hülfe bei dem Gentest, den ein – namentlich bislang nie genanntes – Mitglied des ungarischen Parlaments und Politiker der Rechtspartei „Jobbik“ sicher gerne europaweit einführen ließe: eine Bescheinigung, „keine Juden- oder Romagene“ zu haben. Nun, es gab ein bisschen Aufschrei. Aber wenig Erwähnung darüber, dass in den Kleinstädten die „Jobbik-Partei“ seit 2010 zumeist die Mehrheit stellt und, von der Regierung abgesegnet, nun die, wie es heißt, „vollkommene Befugnis“ über die örtlichen Roma hat. Was zu regelrechtem Terror gegen diese Roma führt, zu täglichen Schikanen, zu einer Apartheid, die Europa in Südafrika verurteilte, der sie aber am eigenen Kontinent ziemlich ungeniert beim Wachsen zusieht. Wenn etwa ungarische Sozialhilfeempfänger zur Zwangsarbeit verpflichtet werden können, es sich aber ausschließlich um Roma handelt, die dann zur Landarbeit (ein von der EU finanziertes Wiederaufforstungsprojekt) gezwungen werden, wird das – erwartungsgemäß – von Rechts begrüßt. Daran hat man sich ja fast schon gewöhnt, man rechnet und lebt damit.
Worauf man aber zunehmend auch zählen kann (oder setzen muss?), ist das ausdauernde Schweigen von links. Die völlig ausbleibende Solidarität fällt aber in Europa scheinbar nur den Roma selber auf. Dass Intellektuelle und Künstler bei Romafeindlichkeit ihren Mund nicht aufmachen? Liegt es an uns? Oder mehr an einer Störung der europäischen Wahrnehmung, in der wir bloß noch als „lästige Bett- lerInnen“ existent sind?
Stets haben die Romnia den bewaffneten Kampf, um sich durchzusetzen, abgelehnt. Was uns mittlerweile, mancherorts, im Armutsfall, schon wieder fast zu Vogelfreien macht.
Wenn das politische Europa überhaupt von Roma spricht, fällt unweigerlich (noch) ein Wort: Integration. Die sieht dann in der Umsetzung etwa so aus wie in der nordrumänischen Industriestadt Baia Mare, wo Anfang Juni auf Geheiß des liberalen (!) Bürgermeister Catalin Chereches rund 2000 Roma aus ihren Unterkünften zwangsevakuiert wurden. Er habe neue Wohnungen zur Verfügung gestellt. Wogegen einige Undankbare Widerstand leisteten. Unbewaffneten und völlig legitimen, nachvollziehbaren, denn jene ersten Familien, die sich widerstandslos umsiedeln ließen, wurden in Laboratorien einer ehemaligen Fabrik untergebracht, wo sich Reste von Schwefelsäure und anderen hochgiftigen Substanzen befanden. Vierzehn Menschen, fast alles Kinder, erlitten Vergiftungen dank der „Großzügigkeit“ dieses „liberalen“ Bürgermeisters, der – nebenbei erwähnt – schon 2011 vorhatte, drei Wohnblocks, in denen Roma leben, mit einer 1,80 m hohen Mauer zu umgeben.
Ebenfalls im Juni wurde die größte inoffizielle Roma-Siedlung in Belgrad mit mehr als 1000 Bewohnern brutal zwangsgeräumt. Wieder zeigte sich die behördliche Großzügigkeit: Stadtbeamte stellten den Romafamilien „mobile Wohneinheiten“ zur Verfügung, die immerhin ganze sechs Quadratmeter umfassen – weniger als eine gewöhnliche Gefängniszelle. Blechcontainer, die sich im Sommer fast bis zum Siedepunkt erhitzen.
Doch öffentliche Solidarität mit den Roma regt sich bei so was nicht. Und zur immer offener gezeigten Romafeindlichkeit fällt kaum je ein Wort. Die Humanisten Europas schweigen. Aber selbst die beziehen ja ihr Roma-Bild immer schon nicht aus der Realität und kennen keine Roma, Sinti oder Jenische persönlich – oder gar deren vielzitiertes „Umfeld“. Und sind auch nicht davor gefeilt, genau zu wissen, wie Roma halt sind. Doch eh alle asozial, Schmarotzer, Schnorrer, Diebe, Bettler. Oder, positiver, romantischer: so musikalisch, übersinnlich begabt, freiheitsliebend und romantisch und „Wildheit“ quasi im Blut habend.
Hierzulande keine Stimme
Das geniale Gitarrenspiel von Django Reinhardt oder seiner musikalischen Erben, das schätzt man in Europa durchaus. Und Carmen und Konsorten, diese ewigen Konservenfassungen samt aller Klischees. Wenig geschätzt, aber immer mehr mitbedacht: die Bilder der Slums.
Das Bild der Europäer von Roma besteht, wie es scheint, bloß aus den ewigen Reproduktionen, die nun – auch abseits des Kommerzes – immer mehr als real gelten. Was dabei „unter die Räder“ fällt: Die desolaten Roma-Siedlungen im Osten, die – keine Frage – bestehen, entsprechen nicht der Lebenssituation der Mehrheit der Roma, werden in der kollektiven Wahrnehmung aber zunehmend zu der Wirklichkeit aller, die man nur noch als Bedrohung wahrnimmt. Auch wenn es in der Realität Roma sind, die bedroht werden.
Die ärmsten unter uns: längst (wieder) zu Sündenböcken gemacht. Und nicht nur anderswo, wie sich in Salzburg zeigte, wo kürzlich ein „selbsternanntes „Rollkommando“ von Jugendlichen eine Gruppe von Roma überfiel. Was für die Täter aber folgenlos blieb, da, wie es hieß, „Zeugen und Kläger“ für die Tat fehlten.
Doch bis auf den Schriftsteller Karl Markus Gauß gab es hierzulande keine Stimme, die sich dagegen erhob. Keinerlei Solidarität mit Roma. Bloß Schweigen oder gleich Totschweigen. Was suggeriert, dass dieses selbst dann noch anhielte, wenn alle Roma „plötzlich“ auf immer einfach verschwänden. Einen Mangel an Versuchen, dies auch real werden zu lassen, gab es ja noch nie.
(Simone Schönett, Album, DER STANDARD)
Simone Schönett, geb. 1972 in Villach, ist freie Schriftstellerin. Sie studierte Romanistik, Pädagogik und Medienkommunikation und lebt nach Aufenthalten in Italien, Israel und Australien wieder in Kärnten. Sie ist Mitbegründerin des Kunstkollektivs Wort-Werk, das u. a. „Die Nacht der schlechten Texte“ veranstaltet. Zuletzt erschienen 2011 das Drama Zala. Drama in sieben Bildern / Drama v smedih slikah (gem. mit Harald Schwinger) und im Sommer 2012 die Novelle Oberton und Underground
(Edition Meerauge).
Eine Antwort auf „Wo bleibt die Solidarität mit den Roma?“
danke du sprichst mir aus dem herzen