«Gebt uns unsere Karren zurück»
Mit der Auflösung der realsozialistischen Ordnung in Osteuropa haben die Roma ihren gesellschaftlichen Halt verloren. Vor dem Hintergrund der heutigen prekären politischen und wirtschaftlichen Lage sehen sie sich vielenorts aggressiven Anfeindungen ausgesetzt. Besonders drückend ist die Situation in Rumänien.
von Mircea Cartarescu
Die rumänischen Fernsehsender sind auf Greuel spezialisiert. Die Nachrichtensendungen zeigen ein Repertoire an Morden, Vergewaltigungen und Raubtaten, an Autounfällen, bei denen die am Strassenrand liegenden zerfetzten Opfer beharrlich, mit unerträglicher Fokussierung aufgenommen werden. Man kann hier Ehefrauen sehen, die live über den Tod ihrer Männer unterrichtet werden, damit die Kamera unmittelbar ihre über die Wangen rinnenden Tränen einfangen kann. Man sieht junge Mädchen in grausamen Nahaufnahmen und in gleissendes Licht gerückt, die ausführlich darüber erzählen, wie sie jahrelang vom alkoholsüchtigen Vater vergewaltigt wurden. Öffentliche Proteste haben zu nichts geführt, weil für diese Sender der einzige Massstab die Einschaltquote ist. Aber niemals, so scheint es mir, war ich von dieser Masslosigkeit an Verdummung und fehlender Menschlichkeit dermassen erschüttert wie neulich, als ich einen Beitrag über die Vertreibung einer Roma-Gemeinde am Stadtrand Bukarests sah.
Eine verwahrloste Industrielandschaft, demolierte Wassertürme, ein Hallengerüst, Haufen von verrosteten Röhren und Ventilen. Inmitten von meterhohem Unkraut stehen ein Dutzend Eisenbaracken, deren Türen längst abgerissen sind. Hier hausten seit ein paar Jahren ohne Wasser, Strom und unter menschenunwürdigen Bedingungen etwa einhundert Roma, zwischen im Freien aufgehängter Wäsche und Haushaltsmüll. Mit der Begeisterung eines Fussballkommentators teilt uns die Nachrichtensprecherin mit, dass diese Menschen ihren Lebensunterhalt ausschliesslich durch das Schrottsammeln auf Pferdekarren verdienen könnten. Nun würden diese Karren gerade beschlagnahmt, die Polizei und die «Maskierten» laufen hin und her und ersticken jede Art von Widerstand im Keim. Die Gesichter der Männer aus dieser Gemeinde zeigen eine masslose Verzweiflung.
Und jetzt, wohin?
«Was werden Sie jetzt machen?», fragt die Reporterin einen von ihnen, der einen splitternackten, kleinen Buben im Arm hält. «Wir werden sterben», antwortet er und schaut zu Boden. Der Kleine lutscht an roten Bonbons aus einer vergilbten Tüte, wahrscheinlich sind es aus dem Müll gefischte Tabletten mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Von den Volkswagen der Polizei eskortiert, reihen sich die von kleinen und müden Pferden gezogenen Karren die Strasse entlang. Die Roma werden sie niemals wiedersehen. Dann dringen die Maskierten in die Baracken ein und treiben die ganze Schar, Frauen und Kinder, mit Gewalt heraus, einem Jammerchor in den Tragödien der Antike gleich. Eine alte Frau heult. «Wo werden Sie nun hingehen?», fragt dieselbe Reporterin, ohne eine auch nur geheuchelte Spur von Mitleid. «Wohin sollten wir gehen? Wir wissen es nicht.» Die Männer werden in die Polizeiwagen verfrachtet und zur Beweisaufnahme auf die Polizeistelle gebracht. Was mit den anderen geschieht, wird nicht gesagt. Der Schlusskommentar stimmt dem Einsatz zu. Noch ein Gefahrenherd gesellschaftsfeindlicher Taten sei beseitigt worden. Die Rentner in den kommunistischen Plattenbauten der «goldenen Ära» können zufrieden sein.
Ab 1960 ging das kommunistische Regime mit sozialem Geschick zur «Lösung der Wohnungsfrage» über. Innerhalb von drei Jahrzehnten wurden mit Billigmaterialien nach einfachsten Standards schnell Tausende von Wohnblöcken aus unfertigem Beton gebaut, die heutzutage jedes rumänische Stadtbild verunstalten, trotz der schönen Lage. Ganze Viertel mit malerischen Häusern wurden dem Erdboden gleichgemacht und durch ausgedehnte, gruselige Beton-Ghettos mit dicht beieinander stehenden Hochhäusern ohne Grünflächen oder Kinderspielplätze ersetzt. Eine zum grössten Teil aus den ländlichen Gegenden kommende Bevölkerung wurde in diesen Gebäuden zusammengepfercht. Ein ganzes Volk wurde gezwungen, in diesen «Streichholzschachteln» zu leben, wie die Betonbauten aus Fertigteilen genannt wurden.
Wie einfach ist es, die Roma für Rumäniens schlechtes Bild in der Welt verantwortlich zu machen! Ständig darüber zu klagen, dass die Ausländer die Rumänen (ehrenhafte Bürger, friedlich, fleissig, Bewahrer aller urväterlichen Tugenden) mit den Roma, der «Ersatz-Nation», wie sie in unseren dummen und rassistischen Witzen auftaucht, verwechseln. Doch im Grunde ist das Problem der Roma in Rumänien auf die rumänische Roma-Politik und nicht auf eine «rassische Minderwertigkeit» zurückzuführen.
Vielleicht sollte von Zeit zu Zeit an die historischen Wurzeln dieses Problems erinnert werden. Die Rumänen aus der Walachei und der Moldau haben die Roma vor ein paar hundert Jahren unterworfen und zu Leibeigenen gemacht. Sie waren die Einzigen in Europa, die so vorgingen. So wurden die Roma gezwungen, ihr natürliches Nomadentum gegen die Ansiedlung auf dem Land ihrer Besitzer einzutauschen. Sie wurden von freien Menschen in sprechendes Vieh umgeformt, so wie die schwarzen Sklaven in Amerika. Innerhalb von Hunderten von Jahren wurden sie gekauft und verkauft, ihre Familien gespalten, die Kinder von den Müttern und die Frauen von den Männern getrennt, die jungen Frauen fortdauernd von ihren Besitzern missbraucht, die «Kesselfarbigen» wurden zum Gegenstand der allgemeinen Verachtung und Diskriminierung. Als Landknechte gebunden und wie die Tiere fortgepflanzt, haben sich die Roma aus den rumänischen Fürstentümern hier mehr als sonst in Europa vermehrt. Wir haben folglich das Problem unserer Roma geschaffen. Es ist unsere historische Schuld.
Da sie gezwungen worden waren, sesshaft zu werden und Feldarbeit zu verrichten, vergassen die Roma ihr traditionelles Handwerk. Sie hörten auf, Kesselflicker, Goldschmiede, Musikanten, Tanzbärenführer, Löffelmacher usw. zu sein. Stattdessen wurden sie bequeme und gleichgültige Landwirte, wie es bei allen Sklaven immer der Fall war. Wie soll man mit Begeisterung arbeiten, wenn man nicht für sich selbst arbeitet? Ob man arbeitet oder nicht, man bekommt sowieso eine Tracht Prügel. Mit der Zeit wurden die Roma zu einer amorphen, verfallenen Masse, die sich an die einstige Freiheit kaum noch erinnern konnte. Sie wurden feige, verleumderisch, zornig, krank und voller Sünde. Die heissblütigen Jugendlichen lehnten sich gegen die bestehende Ordnung auf ihre Art auf: Sie stahlen Pferde, plünderten, fälschten Geld, vergewaltigten, töteten. Die jungen rumänischen Landsknechte von damals waren nicht anders.
Befreiung als Schicksalsschlag
Paradoxerweise hat sich im 19. Jahrhundert die Befreiung aus der Sklaverei für die Roma als ein Schicksalsschlag erwiesen. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass der Humanitarismus zu schrecklichen Katastrophen führt. Die Roma-Sklaven wurden vor Hunderten Landhäusern der aufgeklärten Grundbesitzer zusammengerufen, und ihnen wurde mitgeteilt: «Brüder, von nun an seid ihr frei! Geht, wohin ihr wollt!» Das menschliche Unheil, das dieser organisatorisch und psychologisch völlig unvorbereiteten «Befreiung aus der Sklaverei» folgte, ist unvorstellbar. Hunderttausende Roma wurden auf einmal frei, vor Hunger zu sterben. Freigesetzt, aber ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Mittel zum Lebensunterhalt, ohne einen Glauben, eine Kultur, nur mit dem nackten Menschsein in sich, kamen sie bald ins Gefängnis. Niemand weiss, wie viele von ihnen damals an so viel Freiheit gestorben sind. Und wie viele bis heute ums Leben gekommen sind.
Wir schimpfen die ganze Zeit über die Roma. Was würden wir aber an ihrer Stelle tun? Wie ist es, als Rom auf die Welt zu kommen und inmitten eines Volkes zu leben, das dich hasst und verachtet? Nehmen wir an, du gehst über das kulturelle Hindernis hinweg, in einem schmutzigen und elenden Umfeld geboren zu sein, dass dein Vater Toiletten entleert und deine Mutter die Treppe sauber macht, dass die Brüder im Knast sind, dass man in der Schule Kopfläuse bei dir gefunden und dich von den anderen Kindern getrennt hat, die dich auslachten, dass kein Kind mit dunkler Haut im Schulbuch abgebildet ist. Nehmen wir an, du wirst als Erwachsener ein ehrlicher Arbeiter, wie alle anderen. Wirst du einmal anders als «du Zigeuner» angeredet werden? Wird man dir bei der geringsten Gelegenheit nicht etwa immer vorwerfen, dass «der Zigeuner ein Zigeuner bleibt»? Wie soll man unter diesen Umständen nicht wütend werden und diesen Teufelskreis nicht schliessen wollen: Sie hassen mich, weil ich böse bin, und ich bin böse, weil sie mich hassen . . .?
Wir sind empört, wenn die Ausländer uns als ein Volk von Missetätern betrachten. Aber wir selbst betrachten die Roma so. Und dadurch zwingen wir sie dazu, so zu sein. Viele Rumänen wollen von Roma-Händlern nichts kaufen, stellen keine Roma-Mitarbeiter ein, dulden keine Roma-Nachbarn wegen ihrer Straffälligkeit und Promiskuität. Es stimmt ja: Verachtet, ohne eine angemessene Erziehung und ohne ihr traditionelles Handwerk wurden viele Roma zu Schurkereien und einer erniedrigenden Lebensweise gezwungen. Obwohl die ganze rumänische Bevölkerung arm ist, erreichen Armut und Krankheiten im Roma-Milieu wahrhaft unmenschliche Dimensionen.
Trotzdem neigen die staatlichen Behörden, die Schulen, die Polizei, die Justiz zu Strafexpeditionen in den Roma-Siedlungen, was die Lage nur verschlechtert. Heutzutage bewohnen die Roma in den Städten alle Orte, an denen sonst niemand leben möchte: Trümmerberge im Zentrum, Pappkarton- und Wellblechhütten am Stadtrand und Grundstücke ohne Besitzer. Es gibt heutzutage in Bukarest Wohnviertel, in denen fast ausschliesslich Roma leben – Ferentari, Giulesti oder Rahova –, wo der Mangel an Erwerbschancen und die Straftaten katastrophale Quoten erreichen. Nirgendwo wäre das Wort «Ghetto» angebrachter als im Falle dieser finsteren Orte. Hunderte von Jugendlichen in bunten T-Shirts und mit gefärbten Haaren träumen nur davon, um jeden Preis auszubrechen.
Es ist furchtbar, wenn auf übertriebene, emotionale, zudringliche Weise öffentlich der Eindruck erweckt wird, die ganze Gruppe, der der Einzelne angehört, verkörpere dessen Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Es ist ungeheuerlich, wenn man die vielfältigen menschlichen Facetten im Namen der Reinheit und Überlegenheit anderer beseitigen will. Denn die Schönheit des Menschen besteht eben in seiner Vielfalt. Im Laufe der Zeit wurden jedoch Schwarze, Juden, Frauen, Muslime, Homosexuelle als Nichtmenschen oder noch nicht vollkommene Menschen dargestellt und als solche behandelt. Es ist daher unerträglich, Menschen nach genetischen, ethnischen, konfessionellen oder geschlechtlichen Unterschieden zu bewerten, ganz gleich, wo wir selbst stehen.
Der Rom aus Rumänien ist ein menschliches Wesen und ein rumänischer Bürger. Es verwundert, dass daran erinnert werden muss. Wir können die Vorteile und Nachteile der Demokratie oder der universellen Erklärung der Menschenrechte hinterfragen. Aber wenn wir mit ihren Grundsätzen einverstanden sind, sind wir nicht berechtigt, den Roma ihre Menschlichkeit und das Bürgerrecht abzusprechen. Man kann sie als eine Ethnie voller Psychopathen und Verbrecher, als eine heimatlose, primitive und elende Gruppe betrachten, so wie sie heutzutage von vielen Rumänen diffamiert werden. Tatsächlich ist der rumänische Staat multiethnisch und jeder Bürger gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger innerhalb und ausserhalb seiner Grenzen zu schützen.
Kette von Demütigungen
Ich lese immer wieder in der Zeitung verbitterte Beiträge darüber, dass wir überall in der Welt mit den Roma gleichgestellt werden, dass ihre Vergewaltigungen und Raubtaten das Image der Rumänen stark schädigen. Ich bin auf meinen Reisen ebenfalls dieser Verwechslung begegnet, die von Ahnungslosigkeit zeugt. Weder die Roma noch die Rumänen sind daran schuld. Oft ist diese Verwechslung gewollt. Die Verantwortung tragen diejenigen, die die Völker in höher- und minderwertige unterteilen, in einer unendlichen Kette von Demütigungen.
Was uns betrifft, führt es zu nichts, immer wieder auf dem ethnischen Unterschied zwischen Rumänen und Roma zu bestehen. Er ist sowieso offensichtlich für uns alle. Aber von Überlegenheit und Unterlegenheit zu sprechen, bedeutet, rassistisch zu sein. Auch ruft nicht nur die Verwechslung mit den Roma eine Verachtung der Rumänen in der Welt hervor. Die Rumänen wurden auch in der Vergangenheit unabhängig von dem Roma-Problem verachtet: In Siebenbürgen etwa waren sie jahrhundertelang das schwarze Schaf des Habsburgischen Reiches. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht viele und besonders prekäre Probleme der in Armut, Unterentwicklung und Verbrechertum versunkenen Ethnie der Roma gebe. Ihre soziale und kulturelle Rückständigkeit ist historisch begründet, aber nicht genetisch bedingt. Wir werden dieses Problem nicht einfach lösen, aber auch nicht dadurch, dass man zu Hass und Verachtung aufruft. Aber das Verschwinden der Roma, die, ob es uns gefällt oder nicht, ein historisches Erbe und ein Bestandteil des rumänischen Volkes sind, wäre ein grosser Schaden für uns alle.
Bis in die dunkelsten Winkel
Am Ende der Sendung, die ich anfangs erwähnte, steht ein Polizeioffizier vor dem Mikrofon und erläutert die Wirksamkeit des laufenden Einsatzes – im Hintergrund das Heulen der mit Gewalt aus den eigenen Baracken vertriebenen Frauen. Plötzlich stürzt ein Rom auf die Kamera zu und schreit so laut, dass für einen Augenblick das Zäpfchen in seinem Hals sichtbar wird: «Wir werden verhungern! Gebt uns unsere Karren zurück! Was sollen wir ohne sie machen?» Der Polizist drängt ihn mit Gewalt zurück. Es entsteht ein Handgemenge, die Kamera kippt, die in Panik geratene Reporterin schreit etwas, und es folgt eine Unterbrechung. Wir befinden uns in einem prächtigen Wohnzimmer mit einer grossen Zierpflanze in einer Ecke neben einem Sofa, auf dem sich zwei Frauen über die Vorteile eines bestimmten WC-Desinfektions-Mittels unterhalten. Dem herkömmlichen Produkt gelingt es nicht, überall einzudringen, wo sich die Mikroben verstecken. Aber das neue verfolgt sie bis in die dunkelsten Winkel hinein. Ein kleiner Zeichentrickfilm zeigt die erschrockenen Mikroben, die in grossem Durcheinander vor dem wundersamen Mittel fliehen. Von seinem Dampf berührt, schwellen die karikierten Gesichter an und platzen wie kleine Knallkörper. Das Porzellan der Toilette glänzt dann verführerisch, und dieser Glanz wird von einem Glöckchenton untermalt.
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/gebt-uns-unsere-karren-zurueck-1.18087622