Rechtsextreme zünden ein Roma-Haus an und schießen auf die flüchtenden Bewohner – solche Szenen spielten sich vor fünf Jahren in Ungarn ab.
Nun endet der Prozess gegen die Täter. Doch die Politik ignoriert die Opfer, die Geheimdienste schweigen zu ihrer Rolle.
Der Ort des Mordes liegt nur ein paar Meter entfernt. Erzsébet Csorba sieht ihn jedesmal, wenn sie vor die Tür ihres Hauses tritt. Eine Ruine steht da, der Rest des niedergebrannten Hauses, in dem ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und ihre Enkel wohnten.
Jeden Tag seit damals denkt Erzsébet Csorba daran, wie sie ihren Sohn Róbert fand, blutend, im Schnee, und wie sie ihr später den kleinen Róbi ins Haus brachten, ihren Enkel, viereinhalb Jahre alt, tot, durchsiebt von Schrotkugeln. „Ich wache mit den Erinnerungen auf und gehe mit ihnen schlafen“, sagt die 49-Jährige. „Wie konnten sie das tun, einfach unschuldige Menschen umbringen?“
Das abgelegene Dorf Tatárszentgyörgy liegt 55 Kilometer südlich der ungarischen Hauptstadt Budapest. Am Ortsrand leben in ärmlichen Häusern einige Roma-Familien, die Csorbas wohnen im letzten Gebäude vor dem Waldrand. Am 23. Februar 2009 zündeten Rechtsextremisten das Haus von Róbert Csorba an und schossen mit Schrotflinten auf die Familie, als sie sich ins Freie retten wollte. Vater und Sohn starben, eine Tochter überlebte schwer-, die Mutter leichtverletzt.
Sechs Monate später, Ende August 2009, wurden die mutmaßlichen Täter gefasst, vier fanatische Rechtsextreme aus der südostungarischen Großstadt Debrecen. Bis dahin hatten sie seit 2008 insgesamt sechs Roma umgebracht und 55 Menschen, ebenfalls fast alle Roma, zum Teil schwer verletzt – eine terroristisch-rassistische Mordserie, wie Ungarn sie nie zuvor in seiner Nachkriegsgeschichte erlebt hatte.
„Die Morde haben die ungarische Gesellschaft nicht erschüttert“
In diesen Tagen nun geht nach über zwei Jahren und 170 Verhandlungstagen der Prozess gegen die vier Angeklagten zu Ende: Am kommenden Mittwoch dürfen die Brüder István und Árpád K., Zsolt P. und Isvtán Cs. ihr Schlusswort sprechen, spätestens Anfang August soll dann das erstinstanzliche Urteil fallen. An der Schuld der Angeklagten bestehen wenig Zweifel: Sie haben eingeräumt, an den Tatorten gewesen zu sein, nur die Morde bestreiten sie.
So grausam die Taten waren, so wenig öffentliche Reaktionen haben sie in Ungarn ausgelöst. Und so wenig ist auch das nahende Prozessende Gegenstand breiter Debatten. „Diese Morde waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber sie haben die ungarische Gesellschaft nicht erschüttert“, sagt der Roma-Politiker und Bürgerrechtsaktivist Aladár Horváth. „Von staatlicher Seite, von Seiten der politischen Elite hat sich niemand vor den Opfern und ihren Angehörigen verneigt, niemand hat Verantwortung übernommen, weder symbolisch, noch rechtlich, noch politisch, und keiner der Angehörigen hat eine nennenswerte finanzielle Hilfe erhalten.“
So fand etwa der ehemalige liberal-konservative Staatspräsident László Sólyom, in dessen Amtszeit die Morde verübt und die mutmaßlichen Täter gefasst wurden, kein Wort der Anteilnahme für die Opfer. Auch die Sozialisten, die während der Mordserie 2008/2009 regierten und großen Wert auf ihr antifaschistisches Image legen, gaben nur Standard-Worthülsen von sich.
Und natürlich blendet auch die heutige rechtskonservativ-nationalistische Regierungsmehrheit unter dem Premier Viktor Orbán das Thema aus – kein Wunder, sie will ihre Wählerschaft, die bis weit ins Rechtsaußen-Spektrum hineinreichen, nicht verschrecken. Einzig der Kulturminister Zoltán Balog rang sich vor kurzem eine Geste ab: Sein Ministerium zahlte das Begräbnis für Erzsébet Csorbas Mann Csaba, der im Februar dieses Jahres an Gram über den Mordanschlag verstorben war.
Die Geheimdienste schweigen
Der Mangel an öffentlicher Anteilnahme zeigt sich auch in den Ermittlungen gegen die „Roma-Mörder“ und im Prozess selbst. Inzwischen steht fest, dass es bei den Aktionen der Rechtsterroristen mindestens noch einen weiteren, womöglich mehrere Mittäter gab – doch sie fehlen auf der Anklagebank, und es ist unklar, ob die Ermittler weiter nach ihnen fahnden – aus Gründen der nationalen Sicherheit wird der Vorgang geheim gehalten.
Womöglich hätten einige Morde sogar verhindert werden können: Zwei Angeklagte wurden bis 2008, bis kurz vor Beginn der Mordserie, wegen rechtsextremistischer Aktivitäten geheimdienstlich überwacht, doch dann legten die Beamten den Vorgang zu den Akten. Ein weiterer Angeklagter schließlich war Informant des Militärgeheimdienstes. Doch Ungarns Geheimdienste schweigen bis heute über ihre Rolle bei den Morden.
Auch bei der Tatortsicherung spielten sich bisweilen ungeheuerliche Szenen ab: In Tatárszentgyörgy etwa versuchten Polizisten der Familie Csorba in der Mordnacht auszureden, dass es sich um einen Anschlag gehandelt habe, und urinierten in die Spuren am Tatort.
Technizistische Prozessführung
Prozessbeobachter wie der ehemalige liberale Parlamentsabgeordnete József Gulyás, der geheime Ermittlungsakten einsehen konnte, werfen den ungarischen Behörden mindestens Schlamperei vor, schließen aber nicht aus, dass Erkenntnisse über die Mordserie bewusst vertuscht wurden. Gulyás kritisiert außerdem, dass die mutmaßlichen Täter nur wegen Mordes angeklagt wurden, nicht wegen terroristischer Straftaten. „Es scheint, als ob der ungarische Staat und die ungarischen Behörden diese für sie peinliche Angelegenheit mit dem kleinstmöglichen Rummel hinter sich bringen wollen“, sagt Gulyás.
Der Journalist und Filmemacher András B. Vágvölgyi, der an fast allen Verhandlungstagen teilnahm, bemängelt die „technizistische Prozessführung“ durch den Richter László Miszori. „Politische Fragen spielten im Prozess kaum eine Rolle“, sagt Vágvölgyi. „Dabei hätte ein Gericht gerade in einem Land wie Ungarn, das sich in tiefen ideologischen und moralischen Wirren befindet, die Aufgabe, mit einem gewissen moralischen Gewicht aufzutreten.“
Erzsébet Csorba wünscht sich, dass die Angeklagten „niemals wieder das Tageslicht sehen“. Auch sie ist überzeugt, dass es noch mehr Täter gibt und dass sie frei herumlaufen. Sie, ihre Kinder und ihre Enkel leben noch immer in Angst in ihrem Haus am Waldrand. Erszébet Csorba würde am liebsten einen hohen Zaun um das Grundstück ziehen lassen, aber sie hat kein Geld dafür. Manchmal schrecken ihre halbwüchsigen Söhne und ihre kleinen Enkel nachts aus dem Schlaf hoch, weil sie Geräusche hören. „Schlaft weiter“, sagt Erzsébet Csorba dann, „es sind nur die Sträucher und Bäume, die im Wind rauschen.“ Im Stillen fragt sie sich, ob draußen wieder Mörder lauern.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn
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